Es gibt kaum etwas, das ich besser gelernt habe durch meine Kinder als das Reflektieren. Von Situationen. Von meinen Handeln. Von meinen Kindern. Von mir selbst. Erst vergangenen Sonntag hatten wir wieder ein Erlebnis, bei dem ich viel zu spät das Verhalten des Chaosmädchens verstanden habe.
Ich möchte euch daran Teil haben lassen, weil ich denke, dass viele von euch in ähnliche Situation kommen und gegebenfalls genauso falsch handeln wie ich. Deshalb erzähle ich Euch heute, warum Reflexion in der Erziehung für mich so wichtig ist.
Die Situation
Um die Situation zu verstehen, muss man sicherlich einige Hintergründe haben.
Wir wohnen in einer kleinen Siedlung mit einigen Nachbarskindern. Seit diesem Sommer spielt Tilda alleine und selbständig in dieser Gruppe draußen auf der Straße. Es dauerte ein wenig, bis jedes Kind seine Rolle in der Gruppe gefunden hatte und bis auf wenige Ausnahmen läuft es sehr harmonisch.
Das Chaosmädchen ist froh um diese Selbstständigkeit und mein Vertrauen, ohne elterliche Aufsicht zu spielen.
Am vergangenen Sonntag war so schönes Wetter, dass ich auch die Miniqueen mit nach draußen nehmen wollte. Ich beschloss also, das Krabbelkind mit einer Picknickdecke mit zu nehmen. Kaum draußen angekommen stürzten sich alle Kinder auf die Kleinste und wollten mit ihr spielen.
Für mich war das in dem Moment normal und ich habe sie Situation überhaupt nicht als „gefährlich“ eingestuft. Schließlich krabbelte die Miniqueen zum ersten Mal mit dieser Gruppe Mädels. Ich war sogar ein wenig gerührt, wie reibungslos das klappte und wie sehr man sie mit einband.
Auch das Chaosmädchen spielte mit Ihrer Schwester und war sichtlich stolz. Doch irgendwann kippte ihre Stimmung. Dass das Chaosmädchen sich nun allein auf der Picknickdecke befand und die Situation so gar nicht mehr schön fand, hatte ich nicht gleich bemerkt. Und selbst, als ich es bemerkte, verstand ich es nicht. Da saß sie also und beobachtete das Treiben. Mit ihrer kleinen Schwester im Mittelpunkt.
Die Reaktion
Das Chaosmädchen sprach eins der Mädchen an: „Kannst Du jetzt wieder mit mir spielen bitte?“ Es kam keine Reaktion. Sie versuchte es noch einmal. Es kam keine Antwort. Ich griff nicht ein.
Irgendwann trat das Chaosmädchen gegen ihr neues Spielzeug. Es fiel um. Ich ermahnte sie. Sie wiederholte es und trat erneut gegen das Spielzeug. Ich erklärte dem Chaosmädchen, dass ich es nicht schön finde, wenn sie so mit Spielzeug umgeht und, dass es dadurch womöglich kaputt geht. Es gab eine letzte gelbe Karte mit der Ansage, dass das Barbiepferd weg geräumt wird, wenn sie nicht aufhört, es zu treten oder zu werfen.
Sie trat erneut zu.
Die Konsequenz
Ich war genervt und sauer, weil sie nicht hörte und nahm ihr -wie angekündigt- das Pferd ab. Ich brachte es nach drinnen. Das Chaosmädchen wurde mindestens genauso wütend und folgte mir schreiend. Ich erklärte ihr abermals, dass ich wütend bin, weil sie nicht gehört hat und ihr deshalb das Spielzeug abgenommen habe. Das Chaosmädchen beruhigte sich nicht und sagte „Ich bin auch richtig wütend jetzt mit Dir!“
Ich bückte mich zu ihr und sagte ihr, dass ich mir wünsche, dass sie sich beruhigt. Das tat sie erstmal nicht. Immer wieder schrie sie und wollte das Spielzeug zurück. „Nein!“ war meine Antwort.
Ihre Freundinnen waren mittlerweile in ein neues Spiel vertieft und nicht mehr um die Miniqueen versammelt.
Wir gingen irgendwann rein und ich bat das Chaosmädchen, mir zu erklären, warum sie gegen das Spielzeug getreten hatte. Sie konnte es nicht erklären. Stattdessen wurde sie mir gegenüber richtig frech und wählte eine Tonlage, die ich erst in der Pubertät erwarte. Ich war enttäuscht und traurig und auch immer noch ein wenig wütend. Warum musste es zwischen ihr und mir manchmal so eskalieren?
Irgendwann beruhigte sie sich. Ich erklärte ihr erneut meine Gefühlslage und auch noch einmal, warum ich ihr das Spielzeug abgenommen habe.
Schließlich bekam sie das Spielzeug zurück.
Reflexion in der Erziehung
So offensichtlich die Situation auch war, ich habe sie in dem Moment nicht verstanden. Ich habe nicht gesehen, was meine große Tochter mir sagen wollte und warum sie so aufgebracht war. Erst als ich abends spät auf dem Sofa war leuchtete mir alles ein. Fast hätte ich geweint. Weil ich so ungerecht war. Ja, weil ich sie nicht gesehen und einfach nicht verstanden hatte. Dabei hatte sie mir alle Zeichen gegeben, die ich brauchte. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen und es tat mir leid, nicht richtig reagiert zu haben.
Natürlich war sie mit der Situation überfordert, dass ihre kleine Schwester mit draußen war. Sie konnte nun krabbeln, wollte ein Teil der Gruppe sein und wurde von Tildas Freundinnen auch als solcher aufgenommen. Jeder kümmerte sich und das Chaosmädchen hatte vermutlich das Gefühl, vernachlässigt zu werden. Schließlich waren es doch ihre Freunde! Ach, ich konnte sie auf einmal so gut verstehen.
Sie hatte eines der Mädchen mehrfach angesprochen, wieder mit ihr zu spielen und es kam keine Reaktion. Welch Frust und Traurigkeit muss sie in dem Moment verspürt haben. Abgewiesen. Nicht beachtet. In einer Gruppe, die eigentlich ihre ist.
Deshalb trat sie also gegen ihr Spielzeug. Und gab mir als Mutter damit ein Warnsignal. Ein „Mama, das ist nicht in Ordnung und mir geht es grade nicht gut!“ Statt sie wahr zu nehmen und zu verstehen, zu unterstützen und zu bestärken, ihr zuzuhören, bestrafte ich sie, in dem ich ihr das Spielzeug weg nahm. Ich fühlte mich mit einem Mal so schlecht. Und hatte ein schlechtes Gewissen, schließlich war ich wirklich wütend gewesen und hatte echt laut geschimpft.
Das Chaosmädchen war schon im Bett und so musste ich mit schlechtem Gewissen schlafen gehen.
Die Entschuldigung
Am nächsten Abend saß ich mit dem Chaosmädchen beim Abendbrot. Der erste Moment des Tages, bei dem wir in Ruhe sprechen konnten. Ich sagte also „Du, ich wollte mich noch bei Dir entschuldigen mein Schatz!“ Sie bekam große und fragende Augen. „Warum?“ „Na, weil das gestern so doof war, dass ich dir das Spielzeug weg genommen habe. Ich habe einfach nicht verstanden, warum Du das gemacht hast und es tut mir leid, dass ich so böse mit Dir war. Ich glaube, ich habe verstanden, warum Du so sauer warst“.
Da stand das Chaosmädchen auf. Und ich begriff erst, was sie wollte, als sie auf meinen Schoß kletterte und mich ganz feste drückte. Sie sagte „Ja Mama, das war wirklich doof, dass Du das Pferd abgenommen hast. Ich war einfach so sauer, weil alle haben nur mit der Emmi gespielt und keiner mit mir. Und dann waren alle Mädels weg, nur, weil ich so viel gemeckert habe!“
Mein großes Mädchen. Sie hatte es nicht vergessen und schien sichtlich erleichtert, eine Entschuldigung von Ihrer Mutter zu erhalten. Hatte sie sich sicherlich noch den Kopf zerbrochen, was sie wohl falsch gemacht hatte. Welch Erleichterung für sie.
Die Erkenntnis
Ich hatte mit einem Mal das Gefühl, so viel richtig gemacht und vor allem wieder gut gemacht zu haben. Und dieses kleine Tochterkind auf meinem Arm gab mir das Gefühl, wieder im Reinen zu sein. Mit mir. Und ihr.
Kinder denken so viel mehr nach als wir glauben. Und sie reflektieren. Genau wie ich. Das ist wichtig und bestärkt mich darin, mich tagtäglich der Herausforderung als Mutter zu stellen.
Wir sind nicht perfekt und werden es auch nie. Aber diese Momente und Erkenntnisse zeigen mir, wie wichtig es ist, zu reflektieren. Wir haben nur diese eine Chance, gute Eltern zu sein. Und die müssen wir nutzen. Sonst ist es zu spät.
So unschön diese Situation auch war, so schön ist die Erkenntnis am Schluss. So wichtig für viele kommende Situationen. Ohne solche Momente und ohne Reflexion haben wir als Eltern nicht die Möglichkeit, dazu zu lernen.
Eure Chaos & Queen
14 comments
[…] Werte zu vermitteln. Und Sozialverhalten. Ein gesundes Miteinander. Toleranz. Nächstenliebe. Reflexion. Wie würde das eigene Kind sich fühlen? Als Außenseiter? Was würde man dem eigenen Kind raten? […]
[…] Das alles erinnert mich sehr an die Situation mit dem Barbie-Pferd. […]
[…] unsere Erziehung denke ich ja grundsätzlich viel nach und reflektiere viel Geschehenes. Momentan grüble ich aber auch oft darüber, wie meine Kinder mich als Mutter […]
[…] klappt nicht immer. Ich bin auch nur ein Mensch, aber ich gebe mein Bestes, das glaube mir! Durch Reflexion gelingt es mir leider oft erst spät, bestimmte Situationen zu begreifen. Mama sein ist nicht immer […]
[…] möchte wissen, was sie bewegt. Ihr Verhalten hat immer seine Ursachen. Ich erinnere mich an die Aktion mit dem Barbiepferd. Ich war froh, dass es abends noch „Klick“ machte und ich verstand, was in dem […]
[…] macht es aber nicht weniger anstrengend. Natürlich hinterfrage ich Situationen und Handlungen, ich reflektiere auch viel. Aber manchmal gibt es eben auch einfach kein Ergebnis, keine logische […]
[…] Tatsächlich saß das Chaosmädchen nach wenigen Minuten mit Ihren Pixibüchern auf dem Sofa und war versunken. Es hat mich sehr gewundert, da sie wenige Minuten vorher noch so leidlich war. Aber auch ich muss das lernen. Ich selber langweile mich nämlich sehr ungerne und sicher färbt das auch auf meine Kinder ab. Durch meine Kinder habe ich tatsächlich ein Stück weit gelernt, wie es ist, einmal nichts zu tun. Es ist ausbaufähig, das gebe ich zu, aber es ist wichtig zu erkennen und zu reflektieren. […]
[…] […]
Jule ich bin mal wieder am WEINEN. Sehr schön geschrieben und so wahr. Nicht nur wir lehren unsere Kinder, sondern mindestens so oft sind sie unsere Lehrer. Doch wir müssen hinschauen und verstehen WOLLEN. Dann haben wir eine riesige Chance uns mit ihnen zu entwickeln und an Ihnen zu wachsen.
Liebe Tina, vielen lieben Dank für Deinen Kommentar. Es tut gut, Feedback zu bekommen und zu sehen, dass es anderen genauso geht und meine Texte ankommen und man sich wiederfindet. Dankeschön!
Wow, ein toller rührender Beitrag! Schön, dass ihr die Sache durch deine Reflektiertheit noch zu einem guten Abschluss bringen konntet.
Vielen Dank für Deine Worte Britta!
Dein Beitrag hat mich sehr gerührt, schön, dass du so reflektiert bist und die Sache damit noch bereinigt werden konnte. Ich hoffe ich kriege das mit meiner Tochter auch immer so gut hin!
Das freut mich sehr Britta. Sicher kriegst Du das hin. Es klappt ja bei uns auch nicht immer, wie das Beispiel zeigt! :-*